Grenzgänger?

Wieviel Kultur braucht der Nationalpark? Wieviel Natur verträgt die Ofenpasstrasse?

 

Grenzgänger 2004 - Ein visuelles Leitsystem zur interaktiven Desorientierung der Parkbesucher.
Es war in Herbst 2004 als Gregori Bezzola und Niklaus Heeb im Schweizerischen Nationalpark den <Grenzgänger> lancierten. Nachdem sie sich eingehend mit den grafischen Erklärungsversuchen der Naturphänomene und den Gebrauchsanweisungen zur Parkbenutzung und Naturbeobachtung auseinander gesetzt hatten, gingen Bezzola&Heeb dazu über, mit einem von ihnen entwickelten Leitsystem in die Wahrnehmungsgewohnheiten der ParkbesucherInnen einzugreifen.

Die Interventionen blieben nicht ohne Wirkung – bis heute kursieren Gerüchte von auf der Passtrassen-Galerie kämpfenden Hirschbullen von einer rätselhaften Rehbushaltestelle und von im Strassengraben heulenden schwarzen Wölfen. Was ist damals im ominösen Herbst 2004 geschehen?

 

Ein Augenschein
„Im Nationalpark der Schweiz soll die Natur vor den menschlichen Eingriffen geschützt und die gesamte Tier- und Pflanzenwelt ihrer freien Entwicklung überlassen werden“ (Art. 1, Verordnung über den Schutz des Schweizerischen Nationalparks).
Die künstliche Grenzziehung des Naturreservats trennt das naturbelassene Gebiet präzise vom umgebenden “Kulturgebiet” ab. Die
Natur kennt aber keine scharfen Grenzlinien. Die über weite Strecken unsichtbare Trennlinie und die entstehende Reibungszone zwischen der unbegrenzten Freiheit der Natur im Innern und den kulturellen Einflüssen von aussen fordern zu einer ernsthaften künstlerischen Auseinandersetzung heraus.
An welchen Stellen und auf welche Weise manifestiert sich der Übergang vom Kulturraum zum Paradoxon Natur-Park? Wieviel Kultur verträgt der Naturpark oder ist diese gar Teil seiner Lebensnotwendigkeit?
Im Brennpunkt der Auseinandersetzung steht ein markanter Grenzbereich: Die Ofenpass-Strasse, die den Park als Kultur-Transit-Achse durchschneidet und die Besucher in den Naturraum hinein und durch ihn hindurch befördert. Sie stellt mit dem damit verbundenen Besucher-Leit- und Informationssystem einen unübersehbaren Eingriff in den naturbelassenen Raum dar. Insbesondere die verschiedenen Beschilderungen - deren Materialisierung und deren Bildsprache - stehen in einem spannungsvollen Kontrast zum umgebenden Naturraum.
Eine zentrale Bedeutung des Parks ist die direkte Begegnungsmöglichkeit von Besuchern mit Fauna und Flora. Doch diese Begegnung muss geführt, geleitet und begleitet werden, um die Natur vor menschlichen Eingriffen zu schützen (s.o: Verordnung, Art. 1).

 

Kommunikation
Bezzola&Heeb haben an ausgewählten Standorten Rauminterventionen vorgenommen, die in engem Bezug zur Landschaft und zur Fauna stehen. Die Materialisierung und Umsetzung lehnt sich bewusst an bestehende Informations-Systeme an. Die Interventionen bedienen sich der Form und Bildsprache vorhandener Leitsysteme, kommunizieren jedoch unbekannte, irritierende und assozierende Botschaften. Die Objekte und Schilder stehen als Marken in der Parklandschaft und machen auf spezifische Aspekte der Thematik Natürlichkeit und künstliche Einflüsse aufmerksam. Sie sollen als Zeichen und Lesehilfen natürliche Erscheinungen in einen neuen Kontext stellen und der Beobachtung von Landschaft und Tieren einen neuen, eventuell überraschenden Sinnzusammenhang verschaffen. Wenn es gelingt mit derartigen Interventionen die Gewohnheit der Wahrnehmung der Besucher zu durchbrechen, kann dies zu einem erweiterten Erkennen und Erleben der ortstypischen Erscheinungen verhelfen.

 

Das Leitsystem des Grenzgängers – Eine Rückschau
Auf dem Hügel Muottas über Zernez (1559 M.ü.M) weisen drei Tafeln die Richtung: geografisch, inhaltlich und formal. Das Leitsystem nimmt hier seinen Anfang und führt den Grenzgänger auf den Weg. Wenige hundert Meter nach Verlassen der Ortschaft Zernez begegnen wir der alten Zollturmruine bei La Serra. Das Leitsystem nimmt seinen Lauf, warnt vor unbekannten Abgründen und bereitet den Grenzgänger auf spektakuläre Ereignisse vor.

Auf der Hälfte seines Weges zwischen Zernez und dem eigentlichen Parkeingang erblickt der aufmerksame Park-Besucher - aber nur dieser - eine imposante Szene. Am fernen Horizont, auf der Galerie von Prada Laschadura (1618 M.ü.M), kreuzen zwei Parkbewohner ihr Geweih im Gegenlicht, während ein weiterer sein stummes Röhren erschallen lässt. Ist dieses Duell Realität oder Fiktion? Begegnen wir Naturwesen, die sich ausserhalb der Parkgrenze verirrt haben oder sind es im Parkareal montierte Stellvertreter? Die letzte Haltemöglichkeit vor der Einfahrt in das eigentliche Parkareal liegt in der Kurve von Ova Spin (1975 M.ü.M). Eine weitere Leittafel versperrt hier die eindrückliche Aussicht auf da Parkgelände. Sie zeigt einen Grenzgänger beim Transit. Das Wesen aus dem Park hat sich verirrt in ein Piktogramm, in die Bildsprache der künstlichen Welt.

Kaum ist die Grenze zum Naturpark überschritten - respektive überfahren - erspäht uns bei Plan Verd (Parkeingang (P1) 1838 M.ü.M) ein weiterer Urbewohner des Parks. Galt dieser nicht als verjagt und verschollen? Ist er nun bereits wieder zurückgekehrt?

Der halbmondförmige Abgrund bei Vallun Chafoul - Bushaltestelle (P3) markiert einen radikalen Bruch in der Landschaft. Dieser Ort lädt zum Verweilen ein. Auch zum Rückblick und zum Vorausblick, zum Überdenken und eventuell auch zum Umsteigen. Eine Serie von fünf Leittafeln legt dar, dass die Fahrtrichtung offensichtlich nicht offensichtlich ist.

Direkt in Front der Hirschbalzwiese auf dem Parkplatz von Il Fuorn (P6) informiert eine Serie von vier weiteren Leittafeln. Ein Grenz- gänger hat hier seine Spuren hinterlassen.

Lesbare Eingriffe in die Landschaft des Naturparks abseits der Transitachse sind selten. Ein solcher fand bei Buffalora am Parkausgang (1968 M.ü.M) statt. Die letzte Leittafel am Ende unserer Parkquerung liefert dazu eine schlüssige Interpretation.